Bundesgerichtshof, Beschluss vom 15.12.2016 – 2 StR 379/16 –

BGH: Unbewiesene Straftaten dürfen Angeklagten nicht zum Nachteil gereichen

Vermutete weitere Straftaten dienen nicht als Indiz für weitere Tatbegehung

Werden dem Angeklagten weitere unbewiesene Straftaten vorgeworfen, so darf das Tatgericht aus diesen Vorwürfen keine Schlussfolgerungen zum Nachteil des Angeklagten ziehen. Insbesondere dienen vermutete weitere Straftaten nicht als Indiz für eine weitere Tatbegehung. Dies hat der Bundesgerichtshof entschieden.

Vollständiger Bericht: www.asd-ausbildung.com

In dem zugrunde liegenden Fall wurde einem Angeklagten vorgeworfen im Mai 2015 einen 85-jährigen Mann in seiner Wohnung überfallen, gefesselt und beraubt zu haben. Das Landgericht Wiesbaden sah es als erwiesen an, dass der Angeklagte der Täter war. Es begründete dies unter anderem damit, dass sich der Angeklagte in finanziellen Schwierigkeiten befunden habe. Die schwierige finanzielle Situation des Angeklagten meinte das Landgericht darin zu erkennen, dass ihm weitere Raubüberfälle auf Tankstellen und Spielotheken vorgeworfen wurden. Eine Verurteilung gab es aber nicht. Gegen die Verurteilung des Landgerichts legte der Angeklagte Revision ein.

Unbewiesene Straftaten dürfen Angeklagten nicht zum Nachteil gereichen

Der Bundesgerichtshof entschied zu Gunsten des Angeklagten und hob daher die Entscheidung des Landgerichts auf. Es habe aus der Tatsache, dass dem Angeklagten unbewiesene weitere Verbrechen zur Last gelegt wurden, Schlussfolgerungen zu seinem Nachteil gezogen. Es habe den Verdacht der Begehung weiterer Raubüberfälle in seiner Würdigung einbezogen. Dies sei unzulässig. Der bloße Verdacht der Begehung weiterer Taten könne für den Nachweis der konkret abzuurteilenden Tat keine Indizwirkung entfalten.

Zurückweisung des Falls ans Landgericht

Der Fall wurde vom Bundesgerichtshof zur Neuverhandlung an eine andere Kammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Ergänzung zum Unterricht: Gesetzlichkeitsprinzip

Heutzutage ist das Gesetzlichkeitsprinzip in Art. 103 II GG, § 1 StGB verankert.

Hier heißt es:

Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war,

bevor die Tat begangen wurde.

Im Einzelnen gibt es vier Ausprägungen des Gesetzlichkeitsprinzips, die Sie sich merken sollten:

1.       Das Analogieverbot (nulla poena sine lege stricta)

2.       Das Schriftlichkeitsgebot (nulla poena sine lege scripta)

3.       Das Rückwirkungsverbot (nulla poena sine lege praevia)

 

4.       Der Bestimmtheitsgrundsatz (nulla poena sine lege certa)

1. Das Analogieverbot (nulla poena sine lege stricta)

Als erstes ist das Analogieverbot zu nennen. Eine Analogie ist die „Ausdehnung eines Rechtssatzes auf einen im Gesetz nicht geregelten oder vom Gesetzeswortlaut nicht mehr erfassten Fall“ (Wessels/Beulke/Satzger: StrafR AT, 44. Aufl., Rn. 53). Dabei ist zu beachten, dass das Verbot nur für Analogien zum Nachteil des Beteiligten gilt. Zu seinen Gunsten sind sie erlaubt.

Dennoch darf eine Analogie nur angenommen werden, wenn der Gesetzgeber tatsächlich unabsichtlich eine Gesetzeslücke offen gelassen hat. Liegt eine abschließende Regelung vor, ist dies nicht möglich (Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, 44. Aufl., Rn. 54).

Mitunter fällt jedoch die Unterscheidung einer verbotenen Analogie von einer erlaubten Auslegung schwer. Dabei kann man sich daran orientieren, dass der Wortlaut der Norm grundsätzlich die Grenze der Auslegung bildet (Bott/Krell, ZJS 2010, 694 (696)).

2. Das Schriftlichkeitsgebot (nulla poena sine lege scripta)

Ferner ist der Grundsatz enthalten, dass kein Gewohnheits- und kein Richterrecht zum Nachteil des Bürgers etabliert werden darf. Zugunsten des Bürgers kann dies jedoch erlaubt sein, sofern sich Anhaltspunkte im Gesetz befinden. Ein Beispiel hierzu ist die rechtfertigende Einwilligung, die lediglich für die Körperverletzung in § 228 StGB ausdrücklich geregelt, aber als allgemeiner Rechtfertigungsgrund anerkannt ist (Walter, JA 2013, 727 (730)).

Zu beachten ist außerdem, dass das Schriftlichkeitsgebot einer richterlichen Auslegung, die sich zu einer ständigen Rechtsprechung verdichtet, nicht entgegensteht. In Anbetracht der unklaren Rechtsbegriffe in einigen Straftatbeständen ist dies auch nicht vermeidbar (Walter, JA 2013, 727 (730)).

3. Das Rückwirkungsverbot (nulla poena sine lege praevia)

Eine weitere Ausprägung des Gesetzlichkeitsprinzips ist das Rückwirkungsverbot, das § 2 I StGB noch einmal erwähnt: Danach bestimmen sich die Strafe und ihre Nebenfolgen nach dem Gesetz, das zur Zeit der Tat gilt. § 8 StGB gibt indessen Auskunft, was mit „Zeit der Tat“ in diesem Zusammenhang gemeint ist. Danach ist eine Tat zu der Zeit begangen, zu der der Täter oder Teilnehmer gehandelt hat oder im Falle des Unterlassens hätte handeln müssen. Wann der Erfolg eintritt, ist dagegen nicht maßgeblich.

Ein Gesetz darf also weder rückwirkend eine Strafe begründen noch verschärfen. Demgegenüber ist eine Rückwirkung zugunsten des Täters jedoch zulässig (Schmitz in: MüKoStGB, 2. Aufl. 2011, § 1 Rn. 29).

Dieser Grundsatz bezieht sich auf das gesamte materielle Strafrecht, jedoch nicht auf das Strafverfahrensrecht (Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, 44. Aufl., Rn. 48). Er steht auch grundsätzlich nicht einer Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung entgegen (Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, 44. Aufl., Rn. 51). Außerdem bestimmt § 2 VI StGB, dass er ebenfalls keine Geltung für Maßregeln der Besserung und Sicherung beansprucht.

In diesen Themenbereich fallen auch die Ahndung von NS-Verbrechen sowie die Mauerschützenproblematik. Es handelt sich dabei um Taten, die zum Zeitpunkt ihrer Begehung nicht strafbar waren.

Mit dem Schutzzweck des Art. 103 II GG und der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes, die sich aus Art. 25 GG ergibt, wird in diesem Zusammenhang argumentiert, dass das Rückwirkungsverbot Machthabern bei schweren Menschenrechtsverletzungen keinen Schutz vor späteren strafrechtlichen Konsequenzen bietet. Oft erfolgt hier ein Rückgriff auf die Radbruch‘sche Formel (Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, 44. Aufl., Rn. 51).

4. Der Bestimmtheitsgrundsatz (nulla poena sine lege certa)

Der Bestimmtheitsgrundsatz fordert, dass die Voraussetzungen und Rechtsfolgen eines Strafgesetzes möglichst präzise geregelt werden. Er richtet sich damit an den Gesetzgeber. Gleichzeitig sollen jedoch auch die Strafgerichte auf eine Bestimmtheit der Tatbestände hinarbeiten. Dieses Präzisierungsgebot wurde ihnen vom Bundesverfassungsgericht in seiner jüngsten Rechtsprechung auferlegt (vgl. dazu Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, 44. Aufl., Rn. 47).

Darüber hinaus hat der Bestimmtheitsgrundsatz zum Ziel, dass der Bürger erkennen kann, wann er sich außerhalb des Erlaubten bewegt. Gleichzeitig soll er auch vor etwaiger Willkür bei richterlichem Handeln geschützt werden (Bott/Krell, ZJS 2010, 694 (695)).

Generalklauseln sind dabei nicht generell unzulässig. Die einzelnen Tatbestandsmerkmale müssen aber so beschrieben sein, dass man ihren Sinn durch Auslegung erfassen kann (Wessels/Beulke/Satzger, StrafR AT, 44. Aufl., Rn. 47). Auch einige bestehende Strafgesetze werden regelmäßig als zu unbestimmt kritisiert. Dies ist beispielsweise im Rahmen des § 211 StGB der Fall, wo die „niedrigen Beweggründen“ des Täters als Mordmerkmal genannt werden (Walter, JA 2013, 727 (731)).

Quelle: Lecturio